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Schweres Schädel-Hirn-Trauma zum Nulltarif?
Immer wieder argumentieren die Versicherer nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma (SHT; Schweregrad: Glasgow Coma Scale [GCS] unter 8) im Kindesalter mit der einfachen Formel: Weist das MRI des Schädels Jahre nach dem Unfall – Zeitpunkt der Schadenerledigung – keine hirnstrukturellen Veränderungen nach, ist kein Schaden eingetreten. Allfällige neuropsychologische Defizite werden als nicht unfallbedingt angesprochen. Diese Betrachtungsweise ist willkürlich. Sie verstösst gegen den Stand der medizinischen Wissenschaft.
Schädel-Hirn-Traumatisierte mit Hirnkontusion zeigen neben mess- und objektivier-baren neuropsychologischen, kognitiven (meist bleibenden) Defiziten neuropsychiatrische Auffälligkeiten, die sich jeder Objektivierung entziehen, insbesondere Wesensveränderungen. Häufig wird das „Wesen“ solcher Patienten und ihre Persönlichkeitsentwicklung unter den Auswirkungen der Unfallfolgen tiefgreifend verändert, ganz abgesehen davon, dass schwere Schädelhirntraumatisierungen zu Langzeitfolgen mit Krankheitscharakter (z.B. Epilepsie) disponieren und Kompensationsreserven nach Eintreten weiterer Hirnläsionen durch Krankheit oder erneute Traumatisierung einschränken. Auffälligkeiten im Verhalten und der Affektivität (z.B. verminderte Emotionalität, Empathieverlust, mangelnde Motivierbarkeit, Antriebsmangel, Aspontaneität, Interessenverlust) gehören zu den häufig auftretenden Störungen bei Patienten mit Zustand nach schwerem SHT. Längerfristig, d.h. 10 - 15 Jahre nach dem Trauma, wiesen nach einer Studie zwei Drittel aller untersuchten Patienten Veränderungen der Persönlichkeit und der Emotionalität auf. Weitere Studien haben gezeigt, dass die psychosozialen Folgen der Hirnschädigung die schwerwiegendsten Probleme darstellen. Die Beeinträchtigungen, auch noch Jahre nach dem Unfall, sind besonders ausgeprägt, wenn die Schädigung im frühen Kindesalter (d.h. zwischen 3 und 7 Jahren) stattfand und initial schwer war.
Die prognostischen Möglichkeiten, die aufgrund von neuro-radiologischen Untersuchungen (CT, MRI) gemacht werden können, sind klein. Psychometrische Untersuchungen, die auch Verhaltensmuster beinhalten, sind viel aussagekräftiger als die radiologischen Untersuchungsmethoden. Bei Hirnverletzungen darf deshalb nicht bei Fehlen eines neuroradiologischen Befundes auf ein unbeschädigtes Hirn geschlossen werden. Eine Restitutio ad integrum – also eine vollständige Ausheilung der Verletzungen – kann insbesondere bei Schädel-Hirn-Trauma im Kindesalter nur in Ausnahmefällen angenommen werden.
Die beschränkte Aussagekraft bildgebender Untersuchungen lässt sich am Beispiel der Shearing Injuries – mikroskopische Zerreissungen von Nervenfasern – zeigen. Initiale Shearing Injuries sind:
• durch ein initiales CT nicht nachweisbar, ausser sie sind sehr ausgedehnt;
• durch spätes Schädel-MRI nicht mehr nachweisbar;
• praktisch nur durch ein initiales Schädel-MRI nachweisbar.
In einem Fall, wo initial die Bildgebung bei einem schweren Schädel-Hirntrauma im Kindesalter nicht weiterführt, kommt es zwingend auf die klinischen Ergebnisse an.
In einem Fall, der sich 1999 ereignet hat, hat das Regionalgericht Emmental-Oberaargau, Zivilabteilung, C04 10 1790, diesen Stand der medizinischen Wissen-schaft unbeachtet gelassen. Anlässlich eines Unfalles hatte ein 7-jähriges Kind ein SHT (GCS 7) mit Subarachnoidalblutung erlitten. Jahre später zeigte der Geschädigte u.a. eine residuelle Hemisymptomatik links mit Teilleistungsstörungen, vor allem im Sprachbereich. Ein renommierter Professor der Neurologie bestätigte als Gutachter 2013, es liege ein sehr klar umschriebener klinischer Ausfall vor und der Kläger zeige neuropsychologische Befunde, eine posttraumatische Wesensveränderung sowie posttraumatische Angstzustände und Zwangshandlungen.
Das Gericht folgte dieser Beurteilung nicht und wies die Klage des Geschädigten ab. Im Urteil des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau vom 05.09.2014 ist u.a. davon die Rede: "Der Schluss von der Klinik auf eine zu erwartende Hirnverletzung genügt nicht. Auch wenn die Klinik zu einer Läsion passt, die nach einem SHT zu erwarten ist, ist eine solche Läsion bildgebend nachzuweisen." Mit Urteil vom 31.12.2015 hat das Obergericht des Kantons Bern das erstinstanzliche Urteil bestätigt.
HAVE 1/2018; Gerhard Jenzer, Sven Haller, Theodor Landis, Rolf P. Steinegger; Schweres Schädel-Hirn-Trauma im frühen Kindesalter: Schadenerledigung zum Nulltarif?