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Tod durch Anprall oder Überrollen?

Rolf P. Steinegger

Zwei Tage nach dem Unfall, ohne weitere Abklärungen, liess eine Assistenzärztin des Instituts für Rechtsmedizin Bern, die Staatsanwaltschaft folgendes wissen:
„Die bei der ersten Kollision und dem anschliessenden Aufprall auf der Strasse entstandenen Verletzungen waren auf keinen Fall tödlich. / Das vorgefundene Verletzungsbild ist hochspezifisch und entsteht praktisch ausschliesslich beim Überrollen“. / „Die Verletzungen durch die erste Kollision waren nicht tödlich. Die tödlichen Verletzungen wurden mit allergrösster Wahrscheinlichkeit durch die zweite Kollision hervorgerufen“.

Diese schlicht fahrlässige Beurteilung, die auch keine Beachtung der Vorgesetzten der Assistenzärztin fand, gab während Jahren eine falsche Ermittlungsrichtung vor.
Im Herbst 2015 wurde die Fahrerin des ersten Fahrzeuges wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln schuldig erklärt. Gegen die Fahrerin des zweiten Fahrzeuges wurde ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung erlassen.

Im Laufe des Verfahrens beauftragte die Beschuldigte verschiedene Gutachter. Vorweg erklärte der führende österreichische Unfallanalytiker, Prof. Dr. Ing. Hermann Steffan, Linz, dass es – mit einer grossen Wahrscheinlichkeit – zu einem massiven Kopfkontakt der Fussgängerin mit der A-Säule des ersten Fahrzeuges gekommen sei. Dies im Gegensatz zu den Feststellungen des IRM Bern. Dieser Anprall und der anschliessende Bodenkontakt seien „jedenfalls geeignet (gewesen), auch tödliche Verletzungen auszulösen“. „Es (könne) … aber sicher nicht angegeben werden, dass dieses Überrollen (durch das zweite Fahrzeug) die tödlichen Verletzungen ausgelöst…“ habe.

Ein Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München unter Leitung von Prof. Dr. med. Wolfgang Eisenmenger, Prof. Dr. med. Mathias Graw und PD Dr. Adamek, ergab:

  • anstossbedingt wurde der Fussgängerin eine Drehung um ihre Hochachse im Uhrzeigersinn aufgezwungen;
  • dies führte dazu, dass sie „voll mit dem Hinterkopf gegen die A-Säule (des ersten Fahrzeuges) aufschlug“;
  • erkennbar sind „eindeutige sog. Impressionsbrüche des Hinterkopfes … “;
  • „Dies ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass diese schwere Zertrümmerung der Hinterhauptschuppen durch den Anschlag an der A-Säule (des ersten Fahrzeuges) gesetzt wurde“;
  • die Verletzungen am Hinterkopf entstanden nicht durch einen Überrollvorgang; hier ergab sich ein Scharnierbruch in der Schädelbasis – eine klassische Überrollverletzung;
  • am Dachholm an der A-Säule des ersten Fahrzeuges wurden biogene Spuren festgestellt; diese Spuren wurden „aber offenbar nicht gesichert und untersucht“;
  • es kann „keinesfalls ausgeschlossen werden, dass die beim Primäranstoss (mit dem ersten Fahrzeug) … gesetzten schweren Verletzungen, auch ohne Hinzutreten der Überrollverletzungen, für sich den Tod allein bedingt hätten“.

In einem Ergänzungsgutachten hielt Prof. Steffan fest, die Aufprallgeschwindigkeit der Fussgängerin auf der Fahrbahn habe, unter Berücksichtigung ihrer Eigengeschwindigkeit, knapp 30 km/h betragen. Dies würde einem freien Fall auf den Kopf aus einer Höhe von 2,5 bis 3,5 m entsprechen.

Anlässlich der Hauptverhandlung vom 23.11.2016 vor dem Regionalgericht Oberland distanzierte sich der Vertreter des IRM Bern, PD. Dr. med. Christian Schyma, ausdrücklich von dessen früherer Beurteilung, und er schloss sich dem Gutachten des IRM München in allen Teilen an. Am Ende waren sich alle Gutachter einig: Der Erstaufprall hatte zum sofortigen Hirntod der Fussgängerin geführt, das zweite Fahrzeug hatte eine bereits hirntote Person überrollt.

Die Fahrerin des zweiten Fahrzeuges wurde von der Anschuldigung der fahrlässigen Tötung freigesprochen.

Nicht mehr zu prüfen war die Frage, ob die zweite Fahrerin das Überrollen überhaupt hätte vermeiden können.

Der vorliegende Fall – er ist unfallanalytisch, biomechanisch und rechtlich hochinteressant – zeigt eines: Ein komplexer, dynamischer Unfallablauf bedarf neben Kompetenz und Erfahrung sorgfältiger Abklärungen. Es geht nicht an, dass eine Assistenzärztin, ohne die laufenden Ermittlungen abzuwarten und ohne Kontrolle durch ihre Vorgesetzten, zwei Tage nach einem Unfall die Ermittlungsrichtung mit einem falschen, angeblich hochspezifischen Verletzungsbild und falsche allergrösste Wahrscheinlichkeiten vorgibt.
Die Strafsache zeigt aber auch, dass die Verteidigung einen äusserst hohen Aufwand betreiben und – mit den entsprechenden Kosten – Gutachter beiziehen muss, die von ihrer Kompetenz und Erfahrung her gesehen kaum in Frage zu stellen sind.

Berner Oberländer vom 25.11.2016; Erneut stellt sich die Schuldfrage

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Berner Zeitung vom 25.11.2016; Wer trägt die Schuld am Tod der Frau?

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Berner Zeitung vom 23.11.2016; Wer ist schuld am Tod der Frau?

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